"Wien 1927–1934" war ein gemeinsames public history Projekt von present:history und kritTFM. Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe im Sommer/Herbst 2018 (mit einer Fortsetzung 2019) beleuchteten wir die politischen Auseinandersetzungen der Wiener Zwischenkriegszeit und richteten unseren Blick auf widerständige Praktiken in Politik und Kultur. Uns ging es dabei allerdings nicht nur um die Vergangenheit, sondern um dessen Interpretation in der Gegenwart. Im Kontext der aktuellen Entwicklungen diskutierten wir: Kann uns Wissen über die Geschichte dabei helfen, Gegenstrategien für heute zu entwicklen?

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Programmnachlese 2018
 
So 29. Juli: Von „Identitären und Hausbesetzern“. Lehren aus dem Juli 1927?
 
Sa 11. August: Politische Repression 1933-1938. Handlungsmöglichkeiten in der Illegalität
 
So 16. September: Frauen im Widerstand gegen den Austrofaschismus
 
So 14. Oktober: Rote Spuren am Zentralfriedhof. Gedenken als politischer Akt?
 
So 18. November: Protest auf der Straße, in Kunst und Kultur 1927-1934
 
So 9. Dezember: Das Frühjahr 1919 in Geschichtsschreibung und Literatur

 


So 29. Juli 2018, 10-17h: Von „Identitären und Hausbesetzern“. Lehren aus dem Juli 1927?

Tagesworkshop mit Michael Hollogschwandtner und Elisabeth Luif

Am Morgen des 15. Juli 1927 kamen zehntausende Menschen zu einer spontanen Demonstration zusammen um gegen ein skandalöses Gerichtsurteil zu protestieren, in deren Verlauf der Wiener Justizpalast in Brand gesetzt wurde. Während das – menschenleere – Gebäude niederbrannte, gab Polizeipräsident Schober – als Tiefpunkt des polizeilichen Vorgehens – den Schießbefehl. Es folgte ein Polizeimassaker, dass bis zum nächsten Tag andauerte. Die Bilanz: 89 Tote und Hunderte Verletzte.

Diese Ereignisse wurden 2017 in einer Ausstellung des Innenministeriums (BMI) aufgegriffen. Die exzessive Polizeigewalt und deren Hintergründe standen dabei nicht im Vordergrund, vielmehr die angeblich gleiche Gewaltbereitschaft Linker wie Rechter im Kontext einer Radikalisierung beider politischer Lager . Daraus zog Innenminister Sobotka Lehren für heute: Die politische „Mitte“ müsse vor ihren „extremen“ Rändern beschützt werden, vor Identitären genauso wie vor Hausbesetzern.

Im Rahmen des Workshops diskutierten wir nach einem historischen Stadtspaziergang, inwieweit diese Geschichtsdeutung im Rahmen der – weit verbreiteten – Extremismus-These verstanden werden kann, mit der rechte Gewalt verharmlost und linke Positionen delegitimiert werden. Wie wird diese Gleichsetzung konstruiert und was können wir ihr entgegensetzen?

 


Sa 11. August 2018, 10-17h: Politische Repression 1933-1938. Handlungsmöglichkeiten in der Illegalität

Tagesworkshop mit Elisabeth Luif, Sabine Schmitner und Florian Wenninger

Der Februar 1934 war die bedeutendste Widerstandshandlung gegen die Etablierung der austrofaschistischen Diktatur. Neben mehreren hundert Toten wurden in der Folge allein in Wien knapp 8000 Personen verhaftet, 9 Personen österreichweit hingerichtet. Die österreichische Arbeiter:innenbewegung wurde vollständig illegalisiert.

Die vielfältige Repressionsmaßnahmen, wie Inhaftierungen in Anhaltelagern und Gefängnissen, aber auch wirtschaftliche Sanktionen, bedrohten die Existenz der Verfolgten und schränkten den Handlungsspielraum für Widerstand enorm ein. Gleichzeitig standen Praktiken des Widerstands wie der Februar 1934 in Zusammenhang mit strategischen Diskussionen, wie den autoritären Tendenzen zu begegnen wäre, die bereits seit den 1920ern geführt wurden.

Im Workshop beschäftigten wir uns bei einem einführenden Input mit Ausgangsbedingungen und Handlungsrahmen für widerständige Politik. Anschließend besuchten wir bei einem Ausflug nach Niederösterreich das Mahnmal des größten austrofaschistischen Anhaltelagers in Wöllersdorf. Dort diskutierten wir über Widerstandsmöglichkeiten in der Illegalität, als Beispiel diente uns ein Hungerstreik der Häftlinge im Juli 1935. Zum Abschluss besichtigten wir die Ausstellung „Marschieren, Demonstrieren, Applaudieren. Demokratie und Öffentlichkeit ab 1918“ im Industrieviertelmuseum in Wiener Neustadt.

 


So 16. September 2018, 10-17h: Frauen im Widerstand gegen den Austrofaschismus

Tagesworkshop mit Hannah Lichtenberger

Geschichtsschreibung und Erinnerung an den Widerstand gegen den Austrofaschismus sind geprägt durch Bilder von Männern an der Waffe, die mit wehenden roten Fahnen Gemeindebauten verteidigen. Frauen waren aber im Widerstand gegen das autoritäre Regime ebenso beteiligt – um ihre Erinnerungen, Erzählungen und deren Auslassung ging es im Workshop,ebenso wie darum, einen Einblick in die neuesten Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung zum Widerstand gegen den Austrofaschismus zu erhalten.

 


So 14. Oktober 2018, 14-16h: Rote Spuren am Zentralfriedhof. Gedenken als politischer Akt?

Historischer Spaziergang mit Werner Drizhal

In einer Demokratie sind Meinungs- und Pressefreiheit zur politischen Willensbildung unerlässlich. Dazu gehört auch das Lernen aus den Ereignissen der Vergangenheit. Allerdings wird Geschichte bei uns oft mit der Geschichte der Machthaber, der Reichen und auch Despoten verwechselt. Wenn wir über das Lernen aus der Geschichte sprechen meinen wir gemeinsam darüber nachzudenken

  • Wer WIR sind – Woher WIR kommen
  • und WELCHE Lebensumstände uns und unsere Familien und FreundInnen geprägt haben
  • WIR versuchen die Geschichte von UNS zu erforschen.

Bei diesem Rundgang werden wir den Erfahrungsraum der Ereignisse im 20. Jahrhundert aus der Sicht der Arbeiter:innen betrachten. Wir sprechen über ihr Leben, ihre Unterdrückung, ihre menschlichen Schicksale und wollen darüber nachzudenken, was dies für unser heutiges politisches Handeln heißt.

Weitere Infos auf dem Blog Rote Spuren

 


So 18. November 2018, 10-14h: Protest auf der Straße, in Kunst und Kultur 1927-1934

Workshop mit Andreas Filipovic und Sarah Kanawin

In diesem Workshop durchstöberten wir gemeinsam zeitgenössische Zeitungen, Zeitschriften, Plakate und mehr auf der Suche nach Protestformen durchstöbern. Neben klassischen Protesten wie Demonstrationen auf der Straße ging es auch um weniger beachtete Formen. Auch Kabarett, Musik, Literatur und Bildende Kust haben eigene Praktiken und Strategien des Widerstandes entwickelt. Im Fokus stand das Kino als zentraler Ort politischer Auseinandersetzungen und Bewusstseinsbildung.

 


So 9. Dezember 2018, 11-16h: Das Frühjahr 1919 in Geschichtsschreibung und Literatur

Workshop mit Benedikt Roland

In diesem Workshop beschäftigten wir uns mit den Ereignissen in Österreich im Frühjahr 1919: Zu dieser Zeit waren in Bayern und Ungarn Räteregierungen an der Macht, auch in Österreich waren die Angst oder Hoffnung nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaft vorhanden.

Nach einer theoretischen Einführung setzten wir uns mit einigen konkreten Textbeispielen auseinander, darunter Zeitungsartikel, Archivmaterial, Tagebucheinträge, Erinnerungsliteratur sowie mit literarischen und wissenschaftlichen Texten. Der Schwerpunkt lag dabei auf den Einflüssen Ungarns auf die österreichische Innenpolitik. Die historischen Quellen und Texte beschäftigten uns dabei allerdings nicht nur als unmittelbare Auskunfstquellen, im Vordergrund standen Formen des Erzählens und literarische Konstruktionen.

 


 

Historischer Hintergrund

Im Juli 1927 verübt die Wiener Polizei im Rahmen einer linken Demonstration ein Massaker, bei dem knapp 90 Menschen sterben. Sieben Jahre später, im Februar 1934, wird die österreichische Arbeiter:innenbewegung in einem dreitägigen Bürger:innenkrieg endgültig zerschlagen und illegalisiert. Diese beiden Ereignisse waren einschneidende Momente in Richtung eines autoritären Umbaus der Gesellschaft, sie stehen aber im Kontext größerer politischer Auseinandersetzungen zwischen Demokratie und Faschismus in Österreich und weiteren europäischen Ländern.

In der offiziellen Geschichtserzählung scheinen die zwei Jahrzehnte nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 bis zum „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 als eine Entwicklung, die unausweichlich in die Katastrophe führen musste: Die schlechte wirtschaftliche Lage und der fehlende Glaube an die österreichische Nation führten zu einer Radikalisierung beider politischer Lager, eine konstruktive Zusammenarbeit war – anders als in der Zweiten Republik – nicht mehr möglich.

Diese Darstellung blendet allerdings aus, dass sich das bürgerliche Lager bereits ab den späten 1920ern zunehmend zum Faschismus wandte und die staatliche Repression – primär gegen Linke – kontinuierlich verschärft wurde. Ausgeblendet bleiben auch vielfältige emanzipatorische Gegenentwürfe, Praktiken des politischen Widerstands und Gegenstimmen in Kunst und Kultur.

Im Rahmen von Veranstaltungsreihen im Sommer 2018 und 2019 haben wir uns mit den politischen Auseinandersetzungen im Wien der Zwischenkriegszeit beschäftigt und dabei insbesondere den Blick auf widerständige Praktiken in Politik und Kultur richten: Welche Perspektiven für eine emanzipatorische Gesellschaft gab es? Wie wurde Widerstand gegen staatliche Repression und die Rechten „auf der Straße“ artikuliert? Welche Zugangsweisen und Konflikte gab es innerhalb der Arbeiter*innenbewegung? Welche künstlerischen Gegenstrategien wurden entwickelt?

Geschichte ist keine Sache der Vergangenheit, dessen Interpretation und Bewertung verhandelt vielmehr das Selbstverständnis unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Dabei erscheint der historische Faschismus gerade sehr aktuell zu sein: Regierungsmitglieder lassen mit mehrdeutigen Aussagen aufhorchen, auch kritische Stimmen verweisen auf Parallelen in der Geschichte. Dabei sind wir auch real mit einer autoritären und rassistischen Austeritätspolitik konfrontiert. Wie können die aktuellen Entwicklungen vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit verstanden und eingeordnet werden? Wie legitim sind Vergleiche mit geschichtlichen Ereignissen? Welche Rolle spielt der „Kampf um die Geschichte“ für die gegenwärtige Politik? Kann uns das Wissen über die Geschichte dabei helfen, Gegenstrategien für heute zu entwickeln?

 


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